Rubrik Forschung, SVLAT-Blatt Februar 08

 

Das emotionale System nutzen

 

Von Adrian Mühlebach

 

Gene, Lebensgeschichte und Lebenssituation können auf den AT-Lernprozess einen hemmenden oder einen fördernden Einfluss haben. Diese Tatsache gilt es im Unterricht zu beachten. Es ist daher wichtig, dem Klienten Erfahrungen zu vermitteln, welche von seinem emotionalen System positiv bewertet werden. Nur so kann er sie gewinnbringend in seine Persönlichkeit integrieren.

 

 

 

Im AT-Unterricht macht der Klient neue Erfahrungen zur Optimierung seiner Selbstorganisation. Diese Erfahrungen werden in seinem Gehirn als neuronale Muster abgespeichert und können später mittels bewusster gedanklicher Anweisungen aktiviert werden. Die individuelle Selbstorganisation verbessert sich durch die wiederholte Anwendung dieser Anweisungen kontinuierlich. So verläuft der Unterricht im Idealfall. In der Praxis kann der Klient die vom AT-Lehrer angebotenen neuen Erfahrungen jedoch oft nicht integrieren und bleibt seinem gewohnten Verhalten treu.

 

 

 

Was neue Erfahrungen auslösen

 

Der AT-Unterricht ist ein Lernprozess, d.h. der Klient macht im Unterricht neue Erfahrungen, welche von seinem Nervensystem verarbeitet werden. Eine solche Erfahrung löst im Körper einen Komplex von Reizen aus, welche von der Sensorik erfasst, ans Gehirn weitergeleitet und  vom emotionalen System bewertet werden. Das emotionale System, von der Hirnforschung im limbischen System geortet, löst schliesslich eine körperliche Reaktion aus.

 

 

Das limbische System

Einige Teile von Thalamus, Hypothalamus, Hippocampus, Mandelkern (Amygdala), Schweifkern, Septum cervicale und Mittelhirn bilden zusammen eine Funktionseinheit des Gehirns, die man als limbisches System bezeichnet. Diese Strukturen bewerten gemachte Erfahrungen und lösen körperliche Reaktionen aus, z. B. „Schmetterlinge im Bauch“, Herzklopfen oder Angstschweiss. Unser kognitives System interpretiert diese körperlichen Prozesse als Gefühle wie Freude, Erregung oder Angst. 

 

 

 

Der Hirnforscher Antonio DamDer Hirnforscher Antonio Damasio bezeichnet diese körperliche Reaktion als somatischen Marker (Damasio, S.55ff). Die neue Erfahrung wird schliesslich zusammen mit der Emotion und dem somatischen Marker im Gedächtnis abgespeichert. Es entsteht ein neuronales Erregungsmuster. Nervenzellen verbinden sich über ihre Synapsen zu einem Netz. Wird die gleiche Erfahrung zu einem späteren Zeitpunkt reaktiviert, werden mit ihr die dazugehörige Emotion, wie auch die körperliche Reaktion ausgelöst oder eben erregt. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine neue Erfahrung positiv bewertet wird, wenn es darum geht, ob der Klient ein bestimmtes Verhalten, z.B. ein Bewegungsmuster, in seine Persönlichkeit integrieren kann.

 

 

 

Natürlich möchte AT-Lehrer nur positive Erfahrungen vermitteln. Erfahrungen, welche das Wohlbefinden des Klienten fördern und die Funktionsfähigkeit seines Organismus steigern. Der Klient soll seinen Körper länger und weiter erleben, die Atembewegung soll frei fliessen können, Bewegungsblockaden sollen sich auflösen usw. Doch nicht immer reagiert das emotionale System des Klienten positiv auf die vermittelte Erfahrung. Ein von der Lehrperson positiv bewertetes Erfahrungsangebot kann vom emotionalen System des Klienten auch negativ bewertet werden. Es kann Erinnerungen an schlechte Erfahrungen in seinem Leben  aktivieren und diese zusammen mit der negativen emotionalen Bewertung ins Bewusstsein bringen. Es reicht also nicht neue Verhaltensmuster zu vermitteln. Sie müssen vom Klienten positiv erlebt werden.

 

 

 

Emotionale Bewertung

 

Eine positive Bewertung hängt verschiedenen Faktoren, wie den genetischen Voraussetzungen, den im Erfahrungsgedächtnis abgespeicherten Erlebnissen oder der momentanen Lebenssituation ab. Die Gene bestimmen den Aufbau des Körpers und so auch die Ausbildung der einzelnen Hirnregionen. Menschen kommen mit emotional unterschiedlich geprägten Gehirnen zur Welt. Im Verlauf des Lebens, auch bereits in der pränatalen Phase, schreiben sich dann weitere Erfahrungen in das Nervensystem ein. Freudige Ereignisse, aber auch Unfälle, Operationen und Krankheiten hinterlassen ihre Spuren. Und schliesslich hängt die emotionale Bewertung einer Erfahrung auch von der aktuellen Lebenssituation ab. Der Klient ist  in verschiedene Lebensbereiche wie Familie, Arbeit, Freizeit, usw. in Rollenverhalten eingebunden. Änderungen in seinem Verhalten haben immer auch Konsequenzen für seine Umgebung und wirken so auf ihn zurück.

 

 

 

Oft ist der AT-Lehrer daher gefordert, ein Thema nicht direkt anzugehen, da dieses Vorgehen nur Widerstand und negative Bewertungen auslösen würde. Er muss Lernsituationen schaffen, bei denen er den individuellen Bedingungen des Klienten Beachtung schenken kann. Wichtig sind hier:

 

  • Ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen dem Klienten  und dem Lehrer.
  • Die angebotenen Lernsituationen sollen den Klienten nicht überfordern.

  • Ein sorgfältiger Umgang mit emotionalen Reaktionen wie Ängsten, Widerstand, plötzliche Müdigkeit usw. Hinter solchen Reaktionen steckt immer ein Sinn, welcher Teil der Persönlichkeit des Klienten ist.

  • „Störende“ Verhaltensweisen können erst losgelassen werden, wenn der Klient eine Verhaltensalternative dazu aufgebaut hat.

  • Eine Veränderung muss nicht passieren. Die Zeit dafür muss reif sein. 

     

Der Klient kann beispielsweise seine Schwierigkeit vor Leuten zu sprechen nicht überwinden, wenn ich ihm sage, er solle in dieser Situation seine körperlichen Reaktionen hemmen und sich Anweisungen zur Ausrichtung seines Körpers geben. Seine Angstreaktion ist in diesem Moment wahrscheinlich zu stark und mein Ratschlag führt nicht zum Erfolg. Ich muss daher im Unterricht Lernsituationen schaffen, die den Klienten nicht überfordern, sondern ihm Erfolgserlebnisse vermitteln und ihn neugierig machen die Technik in immer schwierigeren Situationen anzuwenden.

 

 

Wenn der Klient im Unterricht die Erfahrung macht beim Sprechen gleichzeitig die Wirbelsäule lang lassen zu können, kann das ein befreiendes Erlebnis sein. Die durch diese Erfahrung ausgelösten freudigen Emotionen verbindet sich in seinem Gedächtnis mit der Körpererfahrung der langen Wirbelsäule (somatischer Marker). Gestärkt durch diese positive Erfahrung kann er nun eine Belastungsstufe höher gehen. Er kann versuchen ausserhalb des Unterrichts, in einer alltäglichen Gesprächssituation, mit Innehalten und gedachter Anweisungen die Wirbelsäule lang zu lassen. Wenn die Zeit dann reif ist, wird er die AT-Werkzeuge schliesslich auch anwenden können, wenn er vor einem Publikum sprechen muss.

 

 

 

 

 

Zusammenfassung:

Emotionale und körperliche Reaktionen (somatische Marker) auf neue Erfahrungen sind wichtige Wegweiser im AT-Lernprozess. Das limbische System, von den Hirnforscher auch das emotionale System genannt, entscheidet als inneres Bewertungssystem, ob eine neue Erfahrung positiv ist und als solche in die Persönlichkeit integriert wird.

 

 

 

Literatur:

 

Damasio, Antonio R.: Ich fühle, also bin ich. 2004, 5. Auflage (amerikanisches Original 1999)

 

Grawe, Klaus: Neuropsychotherapie. 2004

 

Storch, Maja und Krause, Franke: Selbstmanagement – ressourcenorientiert. 2005, 3. korrigierte Auflage