Willensfreiheit – eine Illusion?

Der Mensch – ein unselbständiges Rädchen in der Evolution oder ein sich frei entscheidendes Wesen

 

Von Adrian Mühlebach

 

 

Von den deutschen Hirnforschern Gerhard Roth und Wolf Singer wird heute die These vertreten, dass unser Bewusstsein lediglich ein Produkt biochemischer Prozesse in unserm Hirn und die menschliche Willensfreiheit lediglich eine Illusion sei. Entscheidungen seien längst auf der Ebene von neuronalen Verbindungen festgelegt, wenn sie in unser Bewusstsein aufsteigen. Eine Handlung wäre somit das Resultat von neuronalen Prozessen, die nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung zwangsläufig ohne Willensfreiheit des Handelnden abläuft. (1).

Würde man von dieser These ausgehen, wäre der Rechtsprechung der Boden entzogen und der Mensch wäre lediglich ein Rädchen einer sich abwickelnden Evolution.

Und wie erklären sich die Hirnforscher den Glauben des Menschen an seinen freien Willen? Wolf Singer in einem Spiegelinterview (2):„Er wird von uns als Realität erlebt, und wir handeln und urteilen so, als gäbe es ihn. Der freie Wille, oder besser, die Erfahrung, einen solchen zu haben, ist somit etwas Reales, extrem Folgenreiches. Insofern, als sich die Mehrheit der Menschen zu dieser Erfahrung bekennt, ist sie also keine Illusion wie etwa eine Halluzination. Aber aus Sicht der Naturwissenschaft ergibt sich die mit der Selbstwahrnehmung unvereinbare Schlussfolgerung, dass der ‚Wille’ nicht frei sein kann. Dieser Vorgang lässt sich in der Kindesentwicklung wunderbar nachvollziehen: Am Anfang trennen die Kleinen nicht zwischen sich und draußen. Für sie ist der Wille der Mutter ihr eigenes Anliegen. Sie empfinden sich nicht als Individuum und schon gar nicht als eines, das frei entscheiden kann. Doch das Baby ist eingebettet in ein soziales Umfeld, in dem es immer wieder hört: ‚Tu das nicht, sonst mache ich das.’ Nolens volens muss das Kind daraus schließen, es habe die Freiheit, Entscheidungen zu treffen. Dieser ganze Lernvorgang vollzieht sich während der ersten drei Lebensjahre. Weil sich in dieser Zeit noch kein episodisches Gedächtnis entwickelt hat, erinnern wir uns nicht mehr, wie wir zu der Annahme gekommen sind, wir seien frei.“

Das Thema der Beziehung zwischen Körper und Geist durchzieht die Philosophiegeschichte  bis in die heutige Zeit. Es ist ein Ort der Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Während die Naturwissenschaft ausgehend vom Prinzip der Kausalität (Ursache und Wirkung) ein von der Materie unabhängiges Bewusstsein nicht akzeptieren kann, ist für die Geisteswissenschaften die Freiheit des Geistes geradezu ein unabdingbares Fundament. Der grosse Philosoph Immanuel Kant löste dieses Dilemma, indem er die Gesetze der Naturwissenschaft von den Fragen der Moral trennte und die menschliche Entscheidungsfreiheit als Postulat setzte. Die Freiheit muss es geben! Sonst wäre jede Diskussion über Werte in einer Gesellschaft überflüssig.

Das sehen auch Roth und Singer so. Sie meinen zwar mit ihren Untersuchungen die Nichtexistenz der Willensfreiheit beweisen zu können, betonen aber andererseits die Wichtigkeit der praktischen Freiheit für das menschliche Zusammenleben. „Praktische Freiheit ist gefühlte Freiheit. Sie entwickelt sich über gesellschaftliche Konzepte - und damit über Bildung und Erziehung. Deshalb haben andere Gesellschaften auch ein anderes Verständnis von Freiheit und Recht. Um nicht in Diktatur und Unterdrückung zu enden, muss eine Gesellschaft ihre Kinder im Sinn dieser praktischen Freiheit erziehen. Nur so lernen Menschen, was wir gemeinhin freien Willen nennen: die Fähigkeit, ohne Zwang abzuwägen und zu entscheiden. Wichtig ist aber auch, dass andere ihm das Gefühl von Freiheit vermitteln.“ (3) Die gesellschaftliche Bedeutung des Freiheitsbegriffes soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen. Wenden wir uns philosophischen Überlegungen zum Thema Willensfreiheit zu.

 

 

 

Sind wir in unserem Denken frei?

 

 

Modelle und Wirklichkeit

Als Lebewesen mit der Fähigkeit über uns selber nachzudenken, versuchen wir uns zu verstehen, uns zu beschreiben. Zu diesem Zweck benutzen wir verschiedene Erklärungsmodelle, naturwissenschaftliche, philosophische, psychologische, religiöse, usw. Diese Erklärungsmodelle haben wir in unser Denken integriert. Wir benutzen sie meist ohne uns dessen bewusst zu sein. Sie decken verschiedene Fragebereiche ab. So kommt es zu Überschneidungen, also Bereiche in denen mehrere Modelle Antworten anbieten. Wir haben beispielsweise für die Entstehung der Welt naturwissenschaftliche wie auch religiöse Antwortmodelle zur Verfügung. Für die Fragen des menschlichen Bewusstseins bieten neben der Philosophie und der Psychologie heute dank der modernen Hirnforschung auch die Neurowissenschaften Erklärungsmodelle an. Diese Modelle sind aber nicht mit der Wirklichkeit identisch und können diese auch nicht umfassend erklären. Sie betrachten und beschreiben die Wirklichkeit von ihrem spezifischen Standpunkt aus. Diese Standpunkte basieren auf bestimmten theoretischen Konzepten, welche durch andere Konzepte aber auch relativiert und in Frage gestellt werden können. Der Philosoph Peter Bieri wirft den Hirnforschern denn auch vor, dass sie zur Überzeugung neigen, die eigentliche Wirklichkeit beschreiben zu können und nicht nur ein Erklärungsmodell zu entwerfen. (4)

 

  

Geschichte und Kontext

Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, unsere Entscheidungen fielen aus dem Nichts, ohne von bisherigen Erfahrungen beeinflusst und getragen zu sein. Eine solche Behauptung würde die geschichtliche Dimension des menschlichen Wesens ausblenden.

Wir leben in einem konkreten Körper, in einer konkreten Welt, mit konkreten Menschen eingebunden in den Fluss der Zeit. Die Möglichkeiten unserer Willensfreiheit bewegen sich innerhalb dieses konkreten Rahmens. Alles was wir wollen, entwickelt sich aus diesem Hintergrund hinaus. Ein absolut freier Wille, losgelöst von der Geschichte und der momentanen Lebenssituation des Menschen ist gar nicht denkbar. Wir können keine geschichtslose Kausalkette in Gang setzen. (5)

Unser Wille wird von unseren Erfahrungen geprägt und diese Erfahrungen haben unser Gehirn entscheidend mitgeformt. So ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass dem Moment der Entscheidung ein neuronaler Prozess voran geht, in dem durch frühere Erfahrungen gebildete Hirnstrukturen aktiviert werden. Entscheidungsfindungsprozesse müssen aber nicht automatisch ablaufen.

Der Mensch ist fähig, Situationen zu analysieren, sich eine Meinung zu bilden und Entscheide bewusst zu fällen. Solche bewusst gefällten Entscheide, ob banal alltägliche oder grosse Lebensentscheide, kennt jeder Mensch.

 

 

Bewusstsein und physikochemische Vorgänge

Handelt es sich bei den neuronalen Vorgängen um begleitende Abläufe oder sind sie die Ursache für unser Denken?  Um dieses Verhältnis zu klären, ist die Abhängigkeit geistiger Prozesse von physikochemischen Vorgängen in unserem Gehirn genauer zu untersuchen.

In „Das Manifest“ schreiben führende Hirnforscher über Bewustseinsprozesse:„Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all die Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.“  „Geist und Bewusstsein -  wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht.“ (6)

Die Hirnforscher können heute feststellen dass Aktivitäten in bestimmten Hirnregionen zeitgleich mit bestimmten Bewusstseinsvorgängen stattfinden. Man spricht von der Repräsentanz geistiger Aktivitäten durch neuronale Vorgänge. Das ist nicht das gleiche, wie wenn ich beispielsweise sage, die Vorstellung einer schönen Blume ist identisch mit den physikalischen und chemischen Prozessen die im Gehirn während dieser Vorstellung zu beobachten sind. Die beiden Bereich stehen zweifelsfrei in Beziehung zueinander. Ob sich aber Bewusstsein vollends aus neuronalen Prozessen erklären lässt, ist meines Erachtens durch den heutigen Stand der Forschung noch nicht geklärt.

Ein Blick in die Physik könnte hier vielleicht eine interessante Parallele aufzeigen. Lange Zeit galt die Wellentheorie als einzig gültige Erklärung des Phänomens Licht. Heute braucht man neben der Wellentheorie auch die Teilchentheorie um das Wesen des Lichtes zu beschreiben. So betrachtet könnten neben den neurophysiologischen Erklärungsmodellen für das menschliche Bewusstsein auch andere Modelle mit dem gleichen „Wahrheitsanspruch“ Gültigkeit haben.

 


Doch was haben all diese Überlegungen mit der Alexander-Technik zu tun?

 

 

 

Die Bedeutung der Willensfreiheit in der Alexander-Technik


Das Postulat der Willensfreiheit ist für die AT von elementarer Bedeutung. Ohne diese Grundannahme macht die AT gar keinen Sinn. Wenn jedes Denken, Handeln und Fühlen gänzlich durch neuronale Vorgänge vorherbestimmt ist, sind Bemühungen um ein bewusste konstruktive Selbstbestimmung sinnlos. Erst die Willensfreiheit eröffnet uns das Feld für die Veränderung von Verhaltensgewohnheiten.

FMA schreibt vom Erringen der Freiheit in Gedanken und Handlungen, welche zur Veränderung und Kontrolle der Reaktion führt.(7)

 

 

Freiheit als Interpretation von Erfahrung

Nehmen wir FMAs Stimmverlust auf der Bühne als Beispiel eine konkrete Erfahrung. Wie ging FMA damit um, wie interpretierte er diese Erfahrung?

Erste Interpretation: Stimmprobleme sind ein gesundheitliches Problem, das mir widerfährt. Ich gehe damit  zum Arzt.

FMA suchte Ärzte auf und liess sich behandeln, liess sich Ratschläge geben. Der Erfolg blieb aber leider aus. Medikamente und Schonung der Stimme lösten sein Problem nicht.

Zweite Interpretation: Wenn ich nicht auf der Bühne stehe, funktioniert meine Stimme. Also, muss ich auf der Bühne etwas tun, das mir meine Stimmprobleme verursacht. Die Ursache muss in meinem Verhalten liegen. Ich weiss zwar noch nicht, was ich da mache, aber ich werde es herausfinden.

FMAs Schlussfolgerung aus dieser zweiten Interpretation war:

Ich bin für meine Stimmprobleme verantwortlich und ich habe die Freiheit sie zu überwinden.

Sie war der Ausgangspunkt für seine Forschungsarbeit, die ihn zur Entdeckung des Zusammenhangs zwischen der Art, wie er mit seinem Organismus umging und dessen Funktionsfähigkeit führte.

 

 

Freiheit als Prinzip in der Persönlichkeitsentwicklung

Als Menschen stehen wir im Spannungsfeld von genetischer Veranlagung, Lebensgeschichte, Lebenssituation einerseits – und unseren Sehnsüchten, Wünschen andererseits.

Wir haben das Bedürfnis nach Entwicklung, Entfaltung, Expansion, um Einschränkungen, Automatismen und Gewohnheiten überwinden zu können.

In der Motivationspsychologie zählt man neben den physiologischen Bedürfnissen, dem Bedürfnis nach Sicherheit und sozialer Bindung auch Selbstachtung und Selbstverwirklichung zu den Grundbedürfnissen des Menschen. In diesem Kontext lässt sich das Streben nach Freiheit, als die Überwindung von einschränkenden Verhaltensmustern zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit betrachten.

Diese Freiheit wird in konkreten Alltagssituationen realisiert, indem wir bewusst neue Muster, die wir bisher bewusst oder unbewusst, aus Angst oder Selbstbeschränkung gemieden haben, in unser Verhalten integrieren..

 

 

Freiheit im alltäglichen Verhalten

Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist eine der grossen Entdeckungen der modernen Hirnforschung.

Und gerade weil unser Gehirn plastisch, d.h. lebenslang lernfähig ist, sind wir keine Programm ausführenden Roboter, sondern Lebewesens, die ihr Verhalten bewusst verändern können. Der Mensch hat die Möglichkeit zu seinen automatisierten Denk- und Handlungsmustern auf Distanz zu gehen, diese zu reflektieren und sich für neue Verhaltensweisen zu entscheiden. So gelingt es ihm immer wieder sich veränderten Lebensbedingungen anzupassen.

Vielleicht lassen sich hier auch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung bezüglich Willensfreiheit einordnen. Einerseits sind Gewohnheiten als Programme in unserem Gehirn festgelegt. Sie laufen als neuronale Prozesse ohne unsere willentliche Mitwirkung ab. Sie finden in unserem Alltag bewusst oder eben meist unbewusst ihre Anwendung. Ohne diese Automatismen könnten wir schon gar nicht funktionieren. Wir sind absolut überfordert, wenn wir, um Wasser aus einem Glas zu trinken, allen beteiligten Muskeln Befehle erteilen müssten.

Diese Verhaltensprogramme sind jedoch nicht unveränderbar in unseren Hirnstrukturen festgelegt. Wir haben die Möglichkeit diese Programme bewusst zu verändern. Neben anderen Methoden bietet auch die Alexander-Technik Mittel für solche Veränderungsprozesse an.


 

Freiheit im subjektiven Erleben

Das subjektive Erleben des Menschen kennt Entscheidungen, die auf einen zukommen und solche, die man als Individuum selber fällt. Ich kann mir aber auch bewusst  Entscheidungsfreiräume schaffen, indem ich bei meinem Handeln innehalte. Solche Freiräume geben mir die Gelegenheit meine  Situation, meine Befindlichkeit, den Körper, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, automatisierte Körperreaktionen zu hemmen und in Ruhe entscheiden.

Während meiner Ausbildung zum Lehrer der Alexander-Technik habe ich widersprüchliche Freiheitserfahrungen gemacht. So hatte ich manchmal den Eindruck, dass meine Selbstbestimmung durch die Anwendung der Technik schwindet und es mir nicht mehr möglich in einer gewissen mir vertrauten Art zu denken, wollte ich meine freie Halsrückseite nicht verlieren. Der unmittelbare Einfluss des Denkens auf meine körperliche Befindlichkeit wurde mir so eindrücklich bewusst. Damit war aber auch eine Einbusse an Freiheit verbunden. Ich konnte ja nicht mehr denken, was ich wollte. Mein Körper verbat mir bestimmte Denkweisen. Obwohl ich mich mit dieser Einschränkung ganz wohl fühlte, fragte ich mich: Wer oder was in mir bestimmt denn nun mein Denken?

Zwischen unserem Denken (und Fühlen) und unserem Körper besteht eine Wechselwirkung. Der Körper beeinflusst unser Denken und umgekehrt.

Die andere Erfahrung mit meiner Freiheit war das Glücksgefühl, wenn es mir gelang einem ungewollten Verhaltensmuster nicht zu folgen und mich stattdessen auf eine neue ungewohnte Verhaltensweise einzulassen.

Aber was passiert in unserem Hirn, wenn wir in einer bestimmten Situation nicht in der gewohnten Art und Weise reagieren, diese Reaktion hemmen und uns für eine neue Form des Agierens verbunden mit einer körperlichen Offenheit entscheiden?

Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie „Freiheit“ in unserem Hirn. Dazu meint der Hirnforscher Gerhard Roth. „Es gibt Zentren im Gehirn, die aktiv sein müssen, damit man etwas will und sich frei fühlt. Dort laufen Planungs- und Abwägungsprozesse zusammen. Reizt man solche Zentren im Experiment, fühlt sich der Mensch frei.“ (8)

Setzt man diese Aussage in den Kontext der AT, so lässt sich sagen: Ich kann durch mein Bewusstsein diese Zentren aktivieren, schaffe damit Distanz zum automatisierten Reagieren und eröffne dadurch Entscheidungsfreiräume. Ich bringe mich in einen bestimmten Funktionsmodus, der es mir ermöglicht mein Verhalten bewusster zu steuern, d.h. neben der Ausführung von Handlungsabsichten auch bewusst die Art der Ausführung zu beeinflussen.

 

  1. Roth, Gerhard, Fühlen: Denken, Handeln, 2001, S. 443 ff

  2. Singer, Wolf: „Unser Wille kann nicht frei sein“ in: Spiegel spezial 4/2003

  3. Roth, Gerhard: „Das Hirn trickst das Ich aus“ in: Spiegel 52/2004

  4. Bieri, Peter in: „Das Gehirn entscheidet gar nichts“ , Der Tagesspiegel 24.9.04

  5. Bieri, ebd

  6. Roth, Gerhard; Singer, Wolf; u.a. in: Das Manifest, Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Gehirn und Geist 6-2004

  7. Alexander, Frederick M.: UCL 1946 in: Maisel, Edward (Hrsg.), Die Grundlagen der F.M. Alexander-Technik, S.81

  8. Roth, Gerhard: „Das Hirn trickst das Ich aus“ in: Spiegel 52/2004



8.2.2006 / am