Alexander-Technik für Menschen von heute (Teil 1)

Evolutionstheorie und Verhältnis des Menschen zur Natur

Computertechnologie und Neurowissenschaften prägen den Blick des heutigen Menschen auf sein eigenes Wesen, so wie es die aufstrebenden Naturwissenschaften und der technisch-industrielle Fortschritt zu Alexanders Zeiten getan haben. Alexanders Schriften im Kontext seiner Zeit zu sehen, hilft über seine Methode in einer aktuellen Sprache zu kommunizieren.

 

Alexander und Darwin

Mit Inhibition zum freien Menschen

 

Alexander verknüpfte seine praktischen Unterrichtserfahrungen mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit und entwickelte daraus sein theoretisches Konzept. So nahm er in seinem ersten Buch Man’s Supreme Inheritence Darwins Evolutionstheorie auf, um den Begriff der Inhibition menschheitsgeschichtlich zu positionieren. Darwin legte seine Theorien in den Schriften Über die Entstehung der Arten (1859) und Die Abstammung des Menschen (1871) dar. Sie stellten der biblischen Schöpfungsgeschichte ein naturwissenschaftliches Erklärungsmodell gegenüber und markierten den zunehmenden Einfluss der Naturwissenschaften auf das Welt- und Menschenbild im 19. Jahrhundert. Darwins Theorien entfalteten ihre Wirkung also zeitgleich mit der Entstehung der Alexander-Technik. So war es für Alexander auch naheliegend in seinem ersten Buch seine Ideen in die Evolutionstheorie einzubetten.

Er stellte die Evolution als eine Entwicklung von der unbewussten zur bewusst kontrollierten Verhaltenssteuerung dar. Das Tier wird von seinem  Instinkt gesteuert und ist ohne  Bewusstsein seiner selbst. Auch der Mensch in seiner frühen Form konnte sich auf diese unbewusste Verhaltenssteuerung verlassen. Durch die immer schnellere Entwicklung der Zivilisation und den sich damit verändernden Lebensbedingungen funktionierte diese unbewusste Steuerung nicht mehr. Der Mensch konnte nicht mehr auf gewohnte Verhaltensmuster zurückgreifen, er musste sein Denken, Handeln und Fühlen bewusst steuern, um in seinem Lebensalltag angemessen reagieren zu können.

Die Evolution, als eine Entwicklung vom Unbewussten zum Bewussten und Selbstbewussten zu verstehen, war im 19. Jahrhundert ein grosses philosophisches Thema, etwa bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der auch die Pragmatiker William James und John Dewey beeinflusste. Alexander war ein grosser Bewunderer von James und mit Dewey war er längere Zeit befreundet.

Alexander nutzte Darwins Ideen, um sein Verständnis der Inhibition in der historischen Entwicklung zu positionieren. Das immer komplexer werdende Leben der Menschen verlangte von ihnen, die Bedürfnisse nicht mehr unmittelbar zu befriedigen, sondern ihre Befriedigung zu hemmen, um längerfristige, für das Über- und Zusammenleben wichtigere Ziele erreichen zu können. Der Vorrat an Getreidesamen durfte bei Hunger nicht ganz aufgezehrt werden, damit durch die Aussaat von Samen das längerfristige Überleben gesichert werden konnte. Soziale Regeln mussten spontane Affekte in Bahnen lenken, um ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen. Ein Beispiel für solche Regeln stellen die biblischen zehn Gebote dar (du sollst Vater und Mutter ehren, nicht töten, nicht ehebrechen, stehlen, usw.).

 

Alexander entwickelte den Begriff der Inhibition aber noch weiter, über das Lebenspraktische hinaus, indem sie zu einem allgemeinen, das Verhalten steuernden Prinzip machte. Nach seiner Einschätzung waren die Menschen im industriell-technischen Zeitalter von den immer schnelleren Veränderungen ihrer Lebensbedingungen überfordert. Mit den gewohnten und unbewussten Verhaltensmustern konnten sie ihr Leben nicht mehr situationsgerecht bewältigen. In der Lösung dieses Problems sah Alexander seinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit.

Durch das Innehalten im Selbstgebrauch sollte es möglich sein, den fundamentalen Wechsel von der unbewussten zur bewussten Steuerung ganz  zu vollziehen. Übermässig erregte Angstreflexe, unkontrollierte Emotionen, festgefahrene Emotionen und fehlerhafte Sinneseinschätzungen sollten unter die bewusste, konstruktive Kontrolle und Führung des Verstandes gebracht werden.

Unter dem Eindruck der beiden Weltkriege schrieb Alexander in Die universelle Konstante im Leben, dass sich die Menschheit unversehens neuen, gewaltigen Problemen gegenüber sieht, deren Lösung die Anwendung seiner Technik erfordern würde. Leider seinen bisher nur wenige Menschen mit diesem Wissen in Berührung gekommen, sonst hätten möglicherweise die beiden Weltkriege verhindert werden können[1]. Der Mensch sei in seinem gegenwärtigen Entwicklungsstadium von Impulsen und Instinkten beherrscht, reagiere deshalb fast ausnahmslos nach bestimmten Mustern[2]und sei darum nicht fähig seine grösste Errungenschaft, die Freiheit in Gedanken und Tat in die Praxis umzusetzen[3]. Menschliche Schwächen wie Vorurteile, Eifersucht, Gier, Neid, Hass, usw. würden es verunmöglichen nationale und internationale Beziehungen aufzubauen und so Frieden und Toleranz auf der Welt zu sichern. Alexander dehnte damit die Bedeutung seiner Technik auf eine moralische und sogar weltpolitische Ebene aus.

Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege suchten viele Menschen nach Antworten, wie es so weit kommen konnte und wie solche Ereignisse in Zukunft zu verhindern wären. Aus heutiger Sicht mögen Alexanders Gedanken etwas vermessen klingen, aber er befindet sich mit seinen Überlegungen und der Sehnsucht nach einer friedlichen Zukunft in guter Gesellschaft mit vielen seiner Zeitgenossen.

Heute sehen wir die Bedeutung der Alexander-Technik aus einer anderen Perspektive und stehen vor der Aufgabe Alexanders theoretische Überlegungen von solchen zeitbedingten Anteilen zu lösen und sie in einen aktuellen gesellschaftlichen  und wissenschaftlichen Kontext zu stellen.

 

Mensch und Natur

Vom Beherrscher zum Teil im Regelkreises

 

Das 19. Jahrhundert war geprägt von der technisch–industriellen Revolution. Neue Verfahren zur Gewinnung von Eisen und Stahl erlaubten den Bau von Maschinen und dadurch eine Mechanisierung von Produktionsprozessen auf breiter Front. Völlig neue Möglichkeiten im Umgang mit der Natur, ihren Energien (Dampfmaschine, Verbrennungsmotor, usw.) und materiellen Ressourcen eröffneten sich. Die Maschine war ein Symbol für den Glauben an die Beherrschung der Natur durch den Menschen und im Wort Technik fand die Fertigkeit des Menschen die Natur für seine Zwecke zu verändern und umzugestalten ihren Ausdruck. Technik hatte damals eine grosse Ausstrahlung, stand für eine Vision, dem Vorstossen in neue ungeahnte Dimensionen. So gesehen ist es nicht erstaunlich, dass Alexanders Methode von seinen Nachfolgern als Technik bezeichnet wurde.

 

Für den Menschen des 21. Jahrhunderts hat das Wort Technik eine andere Bedeutung. Wir wissen heute um die Grenzen und Gefahren bei der Nutzbarmachung der Natur. Die bereits realen und die in Zukunft drohenden Umweltkatastrophen machen uns unsere Abhängigkeit von der Natur bewusst. Unser Verhältnis der Natur gegenüber hat sich deshalb verändert. An die Stelle der Unterwerfung ist die Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammengehens mit der Natur getreten. Wir können die Natur zwar für unsere Zwecke nutzen, sind aber gleichzeitig auch in sie eingebunden. Der naturwissenschaftlich orientierte Mensch von heute betrachtet sich, im Gegensatz zum Menschen des 19. Jahrhunderts, auch nicht mehr als Krone der Schöpfung, sondern versteht sein Dasein bescheidener als winziger Teil des ihn umfassenden Universums.

Auf Grund dieser veränderten Bedeutung des Wortes Technik kann die Methodenbezeichnung Alexander-Techniknicht mehr befriedigen. Das Sprechen über die von Alexander entwickelte Methode muss die Bedürfnisse, Hoffnungen und Sehnsüchte des heutigen Menschen aufnehmen, so wie es Alexander damals mit seiner Wortwahl auch getan hat. Dabei geht es nur oberflächlich um eine Anpassung der Methodenbezeichnung, vielmehr geht es auch um das veränderte Verhältnis des Menschen zur Natur des menschlichen Wesens, einer neuen Betrachtung der Möglichkeiten der bewussten Selbststeuerung auf Grund des heutigen psychologischen und neurophysiologischen Wissensstandes.

 

© Adrian Mühlebach, www.tamt.ch, info@tamt.ch



[1] Alexander F.M. (2000), Die universelle Konstante im Leben, Basel: Karger, S. 175-176

[2] ebd., S. 177

[3] ebd., S. 178